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Ein Gespenst geht um in Österreich, es trägt den Namen «Hartz IV»

Österreichs neue Regierung will das System der Arbeitslosenhilfe nach deutschem Hartz-IV-Vorbild reformieren. Damit hat sie eine grosse Aufregung im Land ausgelöst. Aber ein Blick über den Tellerrand ist hilfreich.
Wien

Ein Gespenst geht um in Österreich: Es trägt den Namen «Hartz IV». Seit die neue ÖVP-FPÖ-Regierung von Kanzler Kurz Änderungen an der Arbeitslosenhilfe angekündigt hat, hat eine aufgeregte Debatte das Land ergriffen. Zwar weiss die schwarz-blaue Regierung offensichtlich selbst noch nicht, wie die Reform genau aussehen soll. Details will sie erst gegen Ende Jahr vorlegen.

Dennoch hat die «linke Reichshälfte» von Sozialdemokraten, Gewerkschaften und Arbeiterkammer mit einem Aufschrei der Empörung reagiert. Keinesfalls dürfe man ein Hartz-IV-Modell wie in Deutschland einführen, denn dieses sei ein Inbegriff der sozialen Kälte. Umgekehrt tendieren Befürworter dazu, die deutschen Hartz-IV-Reformen von Mitte der 2000er Jahre zu glorifizieren. Sie seien ein Hauptgrund für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands ab 2005 und die seither stark gesunkene Arbeitslosigkeit.

Rückfall hinter Deutschland

Woher kommt die österreichische Aufregung? Zum einen rührt sie daher, dass das Land in den letzten Jahren ernsthaft mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatte. Lange Zeit wies Österreich die niedrigste Arbeitslosenquote in der EU auf. Mit der wirtschaftlichen Stagnation ab 2011 stieg aber die Zahl der Arbeitslosen deutlich – auf eine Quote von 5,4% per Ende 2017 (gemäss Eurostat). Damit ist man hinter Deutschland zurückgefallen.

Zwar hat sich 2017 die Lage wegen des kräftigen Konjunkturaufschwungs etwas entspannt. Aber insgesamt ist ein Problem mit verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit entstanden, das für Österreich neu ist. Früher schickte man zum Beispiel ältere Arbeitslose einfach in die Frühpension. Aber wegen Anpassungen am Rentensystem, die dringend nötig waren, ist das heute nicht mehr so leicht möglich. Man muss sich deshalb stärker mit der Frage befassen, wie sich Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen lässt.

Zum andern ist augenfällig geworden, dass Arbeitslose hierzulande in gewissen Bereichen relativ grosszügig behandelt werden. Wer die Stelle verliert, erhält zunächst für maximal ein Jahr Arbeitslosengeld und fällt dann in die sogenannte Notstandshilfe, die prinzipiell für unbegrenzte Zeit bezogen werden kann. Die Betroffenen können also sehr lange Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten. Der Knackpunkt der Regierungspläne liegt nun darin, dass der Bezug der Notstandshilfe zumindest für gewisse Gruppen befristet werden soll. Die Betroffenen würden danach in das System der Mindestsicherung (Sozialhilfe) fallen, das parallel besteht. Der grosse Unterschied liegt darin, dass bei der Mindestsicherung auf das Vermögen zugegriffen wird: Bis auf einen Freibetrag von 4200 € müssen die Betroffenen für den Lebensunterhalt das eigene Vermögen aufbrauchen.

Die Kritiker der Regierungspläne fühlen sich deswegen an Hartz IV erinnert. Sie haben damit nicht unrecht. Tatsächlich haben die deutschen Hartz-Reformen die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengeführt und ein einheitliches System der sozialen Grundsicherung geschaffen. Nach spätestens zwei Jahren läuft das Arbeitslosengeld aus, und man fällt in die «Stütze», wobei auch auf das Vermögen zugegriffen wird. Mit den Hartz-Reformen wurde gleichzeitig die Betreuung von Langzeitarbeitslosen verbessert, und es wurden die Anreize zur Arbeitsaufnahme verstärkt.

Schreckgespenst „Hartz IV“

Trotz diesen Parallelen wirkt der beständige Hartz-IV-Vergleich aus zwei Gründen viel zu eng. Zum Ersten zeigt ein internationaler Vergleich, dass ähnliche Modelle nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten Industrieländern angewendet werden. In der Schweiz etwa werden Arbeitslose nach maximal 24 Monaten ausgesteuert, und es wird dann in der Sozialhilfe auf ihr Vermögen zugegriffen. In Dänemark passiert das nach rund drei Jahren. Insgesamt zeigen Daten der Industrieländer-Organisation OECD, dass nur in ganz wenigen Ländern Arbeitslose nach fünf Jahren noch nennenswerte Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten. In Österreich dagegen beziehen sie potenziell unbefristet 50 bis 60% ihres letzten Nettolohns (vgl. Grafik).

Ferner wird in vielen Ländern in der darauffolgenden sozialen Grundsicherung auf das Vermögen zugegriffen, was dem Prinzip der Selbstverantwortung entspricht. International gesehen ist also Österreich ein Ausnahmefall – auch wenn es in der Nabelschau so wirken mag, als könnten die Dinge unmöglich anders geregelt werden als hierzulande.

Zum Zweiten wird Hartz IV in der österreichischen Debatte sowohl für alles Schlechte wie alles Gute in Deutschland verantwortlich gemacht. Das überzeichnet die Bedeutung. Zwar ist weitgehend unbestritten, dass die Hartz-IV-Reformen einen Beitrag zur Reduktion der Arbeitslosigkeit geleistet haben. Aber die «Agenda 2010» der rot-grünen Regierung Schröder umfasste eben weit mehr als Hartz IV, nämlich auch weitgehende Steuer-, Renten- und Arbeitsmarktreformen. Als Paket trug die «Agenda» zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands bei – und diese Dynamik half wiederum bei der Reduktion der Arbeitslosigkeit. Auf ein solches umfassendes Reformpaket wartet man in Österreich bis jetzt vergeblich.

Umgekehrt lasten Kritiker den Hartz-Reformen soziale Kälte an; so sei deswegen ein grosser Niedriglohnsektor in Deutschland entstanden. Dies verkennt aber, dass Hartz IV eine Reaktion auf spezifische deutsche Probleme war. Nach der Wende entstand vor allem im vormals sozialistischen Ostdeutschland aus verschiedenen Gründen eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Das Zulassen eines Niedriglohnsektors ermöglichte es erst, dass diese Menschen überhaupt wieder zu Arbeit kommen konnten. Der Vergleich zwischen Österreich und Deutschland sollte deshalb nicht überstrapaziert werden.

Anreize richtig setzen

Die entscheidende Frage für Österreich liegt wohl darin, ob die geplanten Reformen etwas zur Reduktion der Arbeitslosigkeit beitragen können. Die Positionen dazu schwanken meist zwischen den Extremen «Die Arbeitslosen wollen ohnehin alle arbeiten» und «Die wollen nur auf der faulen Haut liegen». Aus ökonomischer Sicht dürfte die Wahrheit in der Mitte liegen. So haben Rafael Lalive (Universität Lausanne) und Josef Zweimüller (Universität Zürich) in einer Reihe von hochrangig publizierten Studien gezeigt, dass Arbeitslose auch in Österreich auf Anreize reagieren. Die Forscher belegten etwa, dass bei einer kürzeren Dauer der Arbeitslosenhilfe die Betroffenen schneller eine Stelle finden. Neben klassischen Instrumenten der «aktiven Arbeitsmarktpolitik» wie der Umschulung von Langzeitarbeitslosen sollte man deshalb auch auf richtig gesetzte Anreize achten.

Aus diesem Blickwinkel ist es richtig, dass die neue Regierung über eine Reform der Arbeitslosenhilfe nachdenkt. Es gehört zum internationalen Standard, dass man nicht zwei Systeme für das Problem langfristig Beschäftigungsloser parallel betreibt, sondern dass man Arbeitslosengeld und Sozialhilfe aufeinander abstimmt. In vielen Ländern nimmt dabei die Arbeitslosenhilfe über die Zeit schrittweise ab, um den Anreiz für eine Arbeitsaufnahme zu verstärken und sicherzustellen, dass die Betroffenen nicht in eine «Inaktivitätsfalle» geraten und sich ihre Erfahrungen entwerten. Nach einiger Zeit greift dann die soziale Grundsicherung. Das Ziel ist aber meist, dass es gar nicht so weit kommt.

Wenn man in Österreich das Hartz-IV-Gespenst in den Schrank sperrt, dürfte man über die Meriten eines solchen Modells freier debattieren können.

Quelle  https://www.nzz.ch/wirtschaft/geht-es-oesterreichs-arbeitslosen-an-den-kragen-ld.1353441

 

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