In der Pharmabranche herrscht Goldgräberstimmung. Doch kein neu entdeckter Wirkstoff, sondern die Patienten selbst mit ihren Leiden und Medikamenten sind in den Fokus gerückt: Die Unternehmen buhlen um die Masse an Informationen, die inzwischen elektronisch verfügbar sind und damit gezielt ausgewertet werden können – also um „Big Data“ aus Krankenakten, Versicherungsstatistiken und Melderegistern.
Damit wollen Konzerne nach offiziellem Bekunden die Wirksamkeit von Arzneien im Alltag ermitteln, um Therapien zu verbessern. Datenschützer aber laufen Sturm und betrachten den Trend eher als Marktforschung der Pharma-Riesen – befeuert von Tech-Größen mit ihren umstrittenen Datenbergen aus Fitness-Armbändern, -Apps und den sozialen Medien.
Es sind denn auch Technologie-Firmen, bei denen sich die Pharma-Industrie Expertise für das Schürfen nach wertvollen Informationen holt: So kündigte der Schweizer Traditionskonzern Roche unlängst an, die von der Google-Mutter Alphabet unterstützte Software-Schmiede Flatiron Health für 1,9 Milliarden Dollar komplett zu übernehmen. Schon vorher waren die Baseler an dem New Yorker Unternehmen beteiligt, das über eine Kooperation mit mehr als 265 Krebskliniken die Daten von Millionen Patienten auswertet. Roche-Pharmachef Daniel O‘Day warb für den Kauf als Schritt hin zur personalisierten Medizin – etwa bei der Krebsbehandlung, wo die Therapie genau auf bestimmte Tumore zugeschnitten werden kann.
Günstiger als klinische Studien
Die durch Datenanalyse gewonnenen Erkenntnisse aus dem Leben der Patienten werden aber nicht nur bei der Behandlung von Krebs als vielversprechend gewertet. Auch bei Herz- und Atemwegserkrankungen sieht die Branche großes Potenzial. Seit langem gelten klinische Studien als das A und O für die Beurteilung der Tauglichkeit von Medikamenten. Sie werden aber immer teurer und die Auswahl an Studienteilnehmern ist begrenzt. Die digital gesammelten Daten von Millionen Behandelten könnten dagegen bei niedrigeren Kosten ein schärferes Bild von Therapie-Erfolgen und -Rückschlägen in der „real world“ zeichnen, so die Befürworter. In den USA und der EU prüfen die Arzneimittelbehörden inzwischen Möglichkeiten, solche Statistik-Analysen aus dem „echten Leben“ („real-world evidence“/RWE) für ihre Entscheidungen zu nutzen.
Die Zahl klinischer Studien, die durch RWE ergänzt werden, ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Alle großen Pharmakonzerne haben längst Abteilungen, die sich mit der Nutzung von RWE bei verschiedenen Krankheiten beschäftigen. Erste große Untersuchungen liegen vor, so von AstraZeneca und Sanofi für die Behandlung von Diabetes sowie von Pfizer und Bristol-Myers Squibb zur Vorbeugung von Schlaganfällen.
Datenschützer laufen Sturm
Bei aller Digitalisierung sind die Möglichkeiten aber nicht unbegrenzt. Der Datenschutz kann Enthusiasten durchaus die Freude an der Goldader „Big Data“ verderben. Das bekam das britische Gesundheitssystem NHS zu spüren: Ein ehrgeiziges Projekt, anonymisierte Patientendaten der Forschung zur Verfügung zu stellen, wurde 2016 nach Protesten von Patienten und Ärzten gestoppt. Kurz darauf kassierte zudem eine britische Krankenhausstiftung eine Aufsichtsrüge, weil sie Angaben von 1,6 Millionen Patienten an das auf künstliche Intelligenz spezialisierte Google-Unternehmen DeepMind zur Verfügung gestellt hatte.
AstraZeneca hält Probleme mit der Privatsphäre von Patienten für lösbar. Der zuständige Manager Mene Pangalos setzt darauf, dass sich die Gesellschaft an das neue Vorgehen gewöhnt. Auch Roche-Chef Severin Schwan verwies in einem Interview im Dezember eher auf die strategischen Chancen der Kombination von Diagnosen, Pharma-Expertise und Datenmanagement. Man könne zwar eine große Diskussion darüber führen, wem die Daten gehören: dem Patienten, der Regierung oder dem Versicherer. Klar sei aber, dass sie nicht dem Pharmaunternehmen gehörten. Deshalb gebe es keine andere Möglichkeit, als Partnerschaften einzugehen. In der Branche dürfte also mit weiteren Allianzen wie von Roche mit Flatiron zu rechnen sein.
Quelle http://www.krone.at/