Analyse: Frankreich unter Emmanuel Macron
Gelbwesten: Macron hat die Arbeitenden verachtet, jetzt verachten die Arbeitenden ihn
Die wirtschaftlichen und sozialen Reformen der Regierung von Emmanuel Macron haben das Leben für die Mittelschicht und besonders für die bereits verarmten Bevölkerungsteile in Frankreich nochmals schwieriger gemacht. Die Regierung fördert befristete Anstellungen, kürzt soziale Beihilfen und begrenzt den Anstieg von Renten und Sozialleistungen. Protestierende nennt Macron „Faulenzer“. Eine explosive Mischung.
Mindestens 14 Menschen haben durch Gummigeschosse ein Auge verloren, mehreren wurde der Kiefer weggeschossen, und mindestens neun haben eine Hand oder Teile davon verloren. Das Innenministerium zählt 1.700 verletzte Demonstranten und Demonstrantinnen. 14 Wochenenden gehen die Gelbwesten nun schon auf die Straße.
Die Heftigkeit des Protests in Frankreich ist mit der Populismus-These nicht zu erklären. Die besagt, dass die große Masse der Menschen einfachen Forderungen nachläuft. Die Ausdauer der Demonstrantinnen und Demonstranten, ihr Trotz gegenüber der Polizeigewalt, die Wut und Verzweiflung, die daraus sprechen, haben sich über Jahre angestaut. Was auch immer man von den verschiedenen Inhalten und Ausschreitungen der Protestbewegung halten mag: Die Ursachen dafür liegen vor allem in der Wirtschaftspolitik Frankreichs.
Macrons Arbeitsmarktreform hat es für viele schwerer gemacht
Emmanuel Macrons Reformen haben den Alltag der Unter- und Mittelschichten in vielerlei Hinsicht verändert. Nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt als Präsident hat seine Arbeitsmarktreform zu Massenprotesten geführt. Das Kündigungsgesetz wurde gelockert, die Entschädigungssummen für rechtswidrige Kündigungen gedeckelt. Stellen können nun ohne große bürokratische oder finanzielle Hürden gestrichen werden.
Gleichzeitig wurden die Kriterien für das, was als harte Arbeit gilt, teilweise abgeschafft: Das Tragen von schweren Gewichten, der Lärm von Maschinen, der Kontakt mit chemischen Produkten sowie anstrengende Körperhaltung fallen nicht mehr unter die Kategorie „harte Arbeitsbedingungen“. Die ohnehin schlecht bezahlten Arbeiter und Arbeiterinnen, die solchen Bedingungen ausgesetzt sind, können fortan also nicht einmal mehr früher in Rente gehen, wenn sie körperlich am Ende sind.
Arbeit ist mit permanenter Unsicherheit verbunden
Arbeitgeber werden hingegen entlastet: Sie müssen ihren Angestellten keine Festanstellung mehr geben. Bislang durften befristete Verträge nur höchstens zwei Mal vergeben werden. Diese Beschränkung wurde abgeschafft – jetzt gibt es kein Limit für befristete Verträge mehr. Das erleichtert auch den Stellenabbau, nämlich mit Verträgen, die einfach auslaufen. Für Angestellte bringt das eine permanente Unsicherheit mit sich – einen Kredit aufzunehmen etwa wird in solchen Arbeitsverhältnissen fast unmöglich.
Weiterhin ließ die Regierung unter Macron das nationale Transport-Unternehmen SNCF privatisieren – das brachte auch das Aus für den Beruf des Eisenbahners. Wer Eisenbahnerin war, konnte sich auf eine lebenslange Festanstellung verlassen und über eine vergleichsweise gute Rente freuen. Mit der Reform sollen mehrere tausend Stellen gestrichen werden. Nach dem Vorbild einer öffentlich-privaten Partnerschaft will der Staat – also die Steuerzahler – die Schulden des Unternehmens übernehmen, während Profite bei den nunmehr privaten Betreibern bleiben.
Bahn-Privatisierung hängt Verlierer noch weiter ab
Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern wird die Privatisierung vermutlich dazu beitragen, dass die Bahnpreise teurer werden. Strecken in abgelegenen Regionen drohen komplett eingstellt zu werden, weil sie sich nicht rentieren. Anstatt die Infrastuktur in wirtschaftlich schwachen Regionen auszubauen, macht die Politik diese Gebiete zu den Verlierern der Reform. Auch deshalb sorgte Macrons Ökosteuer auf Benzin und Diesel für Wut bei jenen, die täglich pendeln und sich so schon kaum über Wasser halten können.
Geringverdiener könnten den Bus nehmen, „der ist acht bis zehn Mal günstiger“ – das hatte Macron schon ein paar Jahre zuvor in seinem Amt als Wirtschaftsminister gesagt, als er die Busse privatisieren ließ.
Wohngeld gekürzt, Vermögenssteuer abgeschafft
2017 hatte sich die Regierung Macron die Sozialhilfen vorgenommen. Das Wohngeld, auf das Geringverdienende und Studierende Anspruch hatten, wurde gekürzt. In Paris zahlt man für 20 Quadratmeter gut 1.000 Euro im Monat – das ist für Studierende, Alleinerziehende, Mindestlohnempfänger und Rentnerinnen oft unbezahlbar. Dass bei denjenigen gespart wird, die ohnehin wenig haben, anstatt das Problem der hohen Mieten anzugehen, wurde von vielen als ungerecht empfunden.
Unmittelbar darauf folgt ein Steuergeschenk an die Superreichen. Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty bezeichnet die Abschaffung der Vermögenssteuer als einen „historischen Fehler“ und als , „Erbsünde“ Macrons: Jährlich gehen dem Staat damit rund 5 Milliarden Euro verloren. Statt der Vermögenssteuer sollte eine Immobiliensteuer kommen. Das heißt aber: Wer mit dem Bau eines Gebäudes im besten Fall Arbeitsplätze schafft, zahlt eine Steuer. Wer hingegen Millionensummen in spekulative Finanzmarktprodukte investiert und weder zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt noch für Arbeitsplätzen sorgt, ist von jeglicher Steuer ausgenommen.
In Frankreich gibt es 8,8 Milionen Arme
Gleichzeitig wurde eine Allgemeinsteuer erhöht: Die sogenannte CGS. So ging die Begünstigung der Superreichen mit der steuerlichen Belastung der berufstätigen Mittelschicht, der Rentnerinnen und Rentner und der Arbeitslosen einher. Anfang Dezember hatte das Parlament außerdem für ein Gesetz gestimmt, das Renten und Sozialleistungen von der Inflation entkoppelt und ihren Anstieg auf 0,3 Prozent jährlich begrenzt. Bei einem Wirtschaftswachstum von 1,8 Prozent im Jahr 2018 schränkt das Gesetz die Kaufkraft der Empfängerinnen und Empfänger deutlich ein. Bei vielen Menschen geht es dabei nicht um mehr oder weniger Konsum, sondern um die Existenz.
Die jüngsten Armutsberichte aus dem Herbst 2018 dokumentieren, dass es in Frankreich 8,8 Millionen Arme gibt. Über 20 Prozent geben an, von Nahrungsarmut betroffen zu sein – sie müssen Mahlzeiten ausfallen lassen oder können sich kein gesundes Essen leisten. In einer Rede zam 11. Januar 2019 bemerkte Macron: Zu viele Franzosen wüssten nicht, was es heißt, sich anzustrengen.
Für 2019 will die Regierung die Renten und die Arbeitslosenversicherung reformieren. Ein weiteres großes Projekt ist die Streichung von voraussichtlich 120.000 Beamtenstellen.
Macron macht Zugeständnisse
Angesichts blockierter Autobahnen, zerstörter Bank-Filialen, zertrümmerter Statuen am Triumphbogen, brennenden Polizeipräfekturen und Chaos in großen und kleinen Städten Frankreichs, hat Präsident Macron im Dezember allerdings ein paar Zugeständnisse versprochen: Der Mindestlohn soll ab 2019 erhöht werden, Renter und Rentnerinnen mit einem monatlichen Einkommen unter 2.000 Euro sollen doch wieder von der Allgemeinsteuer befreit werden. Dabei wäre der inflationsgebundene Mindestlohn 2019 ohnehin angehoben worden – Macron stellt die gesetzliche Erhöhung in seiner Fernsehansprache aber als großzügiges Geschenk dar.
Obgleich der Präsident sich in vieler Hinsicht als Marketing-Experte erwiesen hat, schafft er es mittlerweile nicht mehr, sich als volksnah zu inszenieren:
Als die Menschen 2017 gegen seine Arbeitsmarktreform auf die Straße gingen, sagte Macron bei einem Griechenlandbesuch über die Proteste zuhause: „Ich werde vor den Faulenzern und Zynikern nicht einknicken.“
„Leute, die gar nichts sind“
Ein ungewöhnliches Verständnis von Demokratie: Der Präsident gegen die anderen. In dieser Logik sieht der Präsident in den Gelbwesten nicht etwa ein gesellschaftliches Symptom, sondern einen Feind, der ihn persönlich angreift und vor dem er nicht klein beigeben möchte. Als „hasserfüllte Menge“ bezeichnete er sie in seiner Neujahrsansprache am 31. Dezember 2018.
Unter seinesgleichen lässt Macron dann auch mal Sätze los wie „die soziale Mindestsicherung kostet uns eine Wahnsinnskohle“, streikende Arbeiterinnen bezeichnete er einmal als Analphabetinnen. Bei der Eröffnung eines Bahnhofs lobte der Präsident die Diversität eines solchen Ortes:
„Da trifft man Leute, die Erfolg haben, und Leute, die gar nichts sind.“ Leute, die gar nichts sind: Faktisch hat Macron einem Diskurs den Weg bereitet, den er anschließend als populistisch und vereinfachend zurückweist: Das Schema „die von Unten gegen die da oben“.
Macrons Kabinett aus der Wirtschaft
Emmanuel Macron kam als Quereinsteiger in die Politik. Der Banker und Millionär hatte von Anfang an schon gute Kontakte zum Medef, dem mächtigsten Unternehmerverband Frankreichs.
Die Ministerien besetzte er, seinem Wahlspruch treu bleibend, weder mit rechten noch mit linken Politikerinnen und Politikern – sondern mit Unternehmern und Unternehmerinnen. Arbeitsministerin Muriel Pénicaud war lange bei dem Tech-Unternehmen Dassault-Systems tätig, war dann Chefin bei Danone, und gründete schließlich die milliardenschwere Agentur „Business France“. Parallel war sie Geschäftführerin bei dem Bahnunternehmen SNCF, sowie im Flughafenbau-Unternehmen Aéroports de Paris.
Von SNCF in die Regierung schaffte es auch Florence Parly, aktuelle Verteidigungsministerin, die auch bei der Fluggesellschaft Air France einen Führungsposten hatte. Ebenfalls in der Führungsposition bei SNCF und außerdem beim Bauunternehmen Eiffage war die jetzige Verkehrsministerin Élizabeth Borne. Die SNCF, das staatliche Bahnunternehmen, musste denn auch als einer der ersten großen Projekte in Sachen Privatisierung und Stellenstreichung dran glauben. Es folgten die Flughäfen.
Wahr ist: Emmanuel Macron als Gesicht des Neoliberalismus ist austauschbar – auch wenn er es unverhohlener zeigt als seine Vorgänger. Die wirtschaftliche Gemengelage innerhalb der EU ist dabei nicht unerheblich. Deutschland hat dem Abbau des Sozialstaats den Weg bereitet und es allen vorgemacht. Als Pionier für Ideen wieHartz IV und Minijobs setzt die Bundesrepublik die EU-Länder wirtschaftlich unter Druck. Wer mithalten will, muss es ihr gleichtun.
Macrons gute Vernetzung in der Welt des Business haben den Prozess sicherlich beschleunigt.
Deutschsprachige Medien und Intellektuelle feiern Macron wegen seiner EU-Freundlichkeit vielfach als linksliberal und als Rettung der europäischen Idee inmitten des aufkommenden Rechtspopulismus. Ein denkbar kurzsichtiger Optimismus. Wird den Menschen die Existenzgrundlage genommen, ist der Nährboden für den Sieg einer Marine le Pen erst geschaffen.