25. Juni 2020
AMS-Algorithmus
Punktabzug für Frauen, Mütter und über 50-Jährige: So entscheidet der AMS-Computer über Arbeitslose
Seit diesem Jahr entscheidet kein Mensch, sondern ein Computer darüber, wen das AMS fördern soll und wen nicht. Menschen werden vom Computer-Algorithmus in drei Kategorien eingeteilt – Arbeitslose über 50 oder Mütter bekommen Abzüge. Wer in der letzten Gruppe landet, wird aufgegeben und in separate Beratungszentren ausgelagert. Nun will sich eine Petition dagegen wehren.
Die ehemalige Sozialministerin Hartinger-Klein ebnete noch den Weg für den AMS-Algorithmus: Damit werden AMS-Berater zu Anhängseln von Computer-Entscheidungen. Denn ab 2020 entscheidet kein Mensch, sondern ein Algorithmus darüber, wer Betreuungszeit und Fördergeld beim AMS bekommt. Manche werden gefördert, andere aufs Abstellgleis verfrachtet. In Wien trifft das rund 40 Prozent der AMS-Kundinnen und -Kunden, fast die Hälfte von ihnen ist älter als 50 Jahre.
Weniger Punkte für Frauen, Behinderte und Menschen über 50
Um die Kategorisierung vorzunehmen, werden in den Algorithmus verschiedene persönliche Merkmale eingespeist. Manche davon bringen Pluspunkte, andere Minuspunkte. So starten Arbeitssuchende über 50 gleich mal mit einem Minus von 0,7 Punkten wegen ihres Alters. Beeinträchtigte Menschen erhalten ein Minus von 0,67 Punkten. Frauen werden gleich doppelt benachteiligt: Sie erhalten zunächst aufgrund ihres Geschlechts einen Abzug von 0,14 Punkten. Außerdem werden für Betreuungspflichten 0,15 Punkte abgezogen – diesen Abzug sieht der AMS-Algorithmus nur für Mütter, nicht aber für Väter vor.
Pluspunkte gibt es etwa für eine abgeschlossene Lehre (+0,27) oder eine Matura (+0,01).
Arbeitssuchende werden in drei Kategorien eingeteilt
Aus Unterlagen für den Verwaltungsrat des AMS geht hervor, dass Arbeitslose aufgrund ihrer Punkte eine von drei Kennzeichnungen bekommen. Diese stehen für drei „Segmente“:
Grün (hohe Arbeitsmarktchancen), gelb (mittlere Chancen) und rot (wenig Chancen). Durchschnittlich wären 2017 ca. 120.000 der 340.000 Arbeitslosen dem niedrigsten Segment zugeordnet gewesen, 170.000 dem mittleren, und 50.000 dem höchsten.
Diese Kategorien und der Algorithmus, auf dem sie basieren, wird von zahlreichen ExpertInnen scharf kritisiert: Eine so weitreichende Entscheidung darf nicht einem Computer überlassen werden. Die IT-Experting Prof. Dr. Sarah Spiekermann-Hoff erklärt dies im ZIB 2-Interview:
Petition gestartet
Die Datenschutz-Organisation epicenter.works hat nun eine Petition gestartet, die sich gegen den Algorithmus wehrt. Hauptkritikpunkt: Mangelnde Transparenz. In einem Aufruf schreiben die OrganisatorInnen:
„Wir dürfen nicht zulassen, dass Merkmale, auf die man keinen Einfluss hat, entscheidend dafür sind, ob Menschen Aus- und Weiterbildungen verboten werden.“
Ein ähnliches System wurden in Polen vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben. Auch in den Niederlanden wurde ein algorithmenbasiertes System, das Sozialhilfeempfänger*innen kontrollieren sollte für rechtswidrig erklärt und eingestellt.
Petition unterstützen
Unter https://amsalgorithmus.at/ kann man die Petition unterzeichnen. Die Forderungen:
1. Menschen, nicht Computer sollen entscheiden
2. Fähigkeiten fördern statt Schwächen bestrafen
3. Mehr Ressourcen für das AMS
4. Recht auf Information
5. Umfassende Transparenz
6. Risikocheck für Algorithmen
7. Nur freiwillige Teilnahme am Algorithmus
Wer es besonders schwer hat, bekommt weniger
Das AMS muss bereits seit 2019 die drei Kategorien anwenden. Personen, die dem roten Segment zugeordnet werden, werden in billige Beratungseinrichtungen gesteckt. In Wien gab es 2019 noch 13 solche Zentren, in den anderen Bundesländern 17 – das AMS baut sie weiter aus. Die Arbeitslosen bekommen kein Geld für Kurse (Ausbildungen, Trainings, Deutschkurse, etc.), keine geförderte Beschäftigung im Rahmen von sozioökonomischen Betrieben und weniger Betreuungszeit durch AMS-Mitarbeiter.
Kurse und Beschäftigungsprojekte sollen Personen im mittleren Segment vorbehalten bleiben. Die Idee dahinter ist einfach: Unterstützung bekommen nicht die Arbeitslosen, die es am dringendsten brauchen, sondern jene, die die Erfolgsstatistiken der Regierung und des AMS aufpolieren.
AMS-Algorithmus teilt 50.000 Personen falsch ein
Wer in das mittlere und das niedrige Segment fällt – und damit entweder gefördert oder aufgegeben wird – entscheidet ein statistisches Modell. Dieses arbeitet aber nicht fehlerfrei. Selbst bei günstigen Voraussetzungen teilt es circa 15-20% der Arbeitslosen (rund 50.000 Personen) falsch ein.
Wie IT-Experten erklären, sind solche Algorithmen hochproblematisch, weil sie Ungleichheiten am Arbeitsmarkt verstärken. Denn anstatt einer Person, die benachteiligt ist, weil sie z.B. gesundheitliche Probleme hat oder schlecht ausgebildet ist, mehr Mittel zukommen zu lassen, um diese Nachteile am Arbeitsmarkt auszugleichen, sagt das Computermodell, dass ihr weniger Mittel zustehen, weil sie geringe Chancen hat. Vorurteile (Sexismus, Altersdiskriminierung, Rassismus) und Nachteile am Arbeitsmarkt werden damit durch ein Computerprogramm beim AMS einzementiert.
Hartinger-Klein erfüllte Wünsche der Wirtschaft
Schon 2016 wurde versucht, dieses System einzuführen. Der vormalige Sozialminister Alois Stöger hat das damals verhindert. Ein so kompliziertes statistisches Modell, dessen Berechnungsvorgang weder die Ministerin noch der Vorstand verstanden und erklären konnten, sollte keine Entscheidungen über die Zukunft von hunderttausenden Menschen treffen.
Hartinger-Klein (FPÖ) übernahm dann dass Ministerium und nutze ihre kurze Amtszeit in der Regierung Kurz I, um den Weg für den Algorithmus freizumachen. Die Wirtschaftskammer freute sich – Martin Gleitsmann von der WKÖ, der selbst im Verwaltungsrat des AMS sitzt, meinte gegenüber dem Standard: Das höchste Ziel müsse sein, die AMS-Mittel „effizient einzusetzen“.
Die Vertreter der Beschäftigten sahen das neue System weniger positiv und stimmten im AMS-Verwaltungsrat nicht zu. Beschlossen hat ihn der Verwaltungsrat dennoch, weil die Arbeitnehmer dort keine Mehrheit haben.