Der türkise Staat
Leitartikel der Redaktion zum 1. Mai
Der 1. Mai ist ein guter Tag, Bilanz zu ziehen und vorauszuschauen. Wo steht Österreich, wo geht es hin? Die Aussichten sind türkis. Oder?
Hand aufs Herz, SPÖ-Abgeordnete: Wer weiß, was der Ursprung des 1. Mai als Feiertag der Arbeiter ist? Es sind Demonstrationen für den Achtstundentag. Die Forderung nach „8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Freizeit, 8 Stunden Schlaf“ ist der Ursprung der Arbeiterbewegung. Sie ist zweihundert Jahre alt. In Österreich war sie für fast genau hundert Jahre – von 1918 bis 2018 – Wirklichkeit.
Wenn die Genossen von Sozialdemokratie und Gewerkschaft heute den Tag der Arbeit feiern, spüren sie dann die Leere, die ihre widerstandslose Selbstaufgabe in der Arbeiterbewegung hinterlassen hat?
Der Arbeiterbewegung das Herz herausgerissen
Als Sebastian Kurz und seine türkise Truppe den 12-Stunden-Tag in Österreich einführten, ging es ihnen nicht zuallererst um Arbeitszeitflexibilisierung. Es ging darum, der Arbeiterbewegung das Herz herauszureißen und die Sozialdemokratie zu demütigen. Wie geräuschlos sich SPÖ und Gewerkschaften unterwerfen würden, hätten die Fleischmanns und Bonellis im Kanzleramt aber wohl nicht einmal zu träumen gewagt. Eine einzige größere Demonstration – bei weitem nicht die größte der jüngeren Vergangenheit – stellten die Genossen auf die Beine, bevor sie sich in ihr Schicksal ergaben. Der Gewerkschaft waren trotz erkennbar guten Willens die Hände gebunden. Willi Mernyis „Pflasterstein“-Rede wird lange unvergessen bleiben, doch: Einen Streik traute man sich nicht zu – die Arbeitnehmer wären wohl nicht gefolgt.
Im Österreich der Gegenwart gilt: jeder für sich – Arbeiter, Angestellte, EPU, Kleinunternehmer. Einzeln marschieren, einzeln besiegt werden. Es ist das Erbe des neoliberalen Credos der 1990er: „There is no alternative“. Exportstarke Staaten wie Deutschland – und in seinem Fahrwasser Österreich – drücken durch Lohnzurückhaltung und Steuerschonung für Konzerne ihre eigene Bevölkerung und Länder wie Frankreich, Italien oder Spanien immer näher an den wirtschaftlichen Abgrund. Den Euro und die Stabilität Europas ruinieren sie gleich mit.
Das liberale Leistungsprinzip ist längst zum Hohn geworden. Hierzulande lohnt sich nicht Arbeit, sondern Erben. Auch scheinheilige Loblieder auf die Heldinnen an der Supermarktkasse können diese Schieflage nicht kaschieren. Dass die Sozialdemokratie diese Entwicklung nicht mit offenem Visier bekämpft hat, ist der Grund für ihren Niedergang.
Der türkise Staat
Es war nur eine Frage der Zeit, bis in Österreich jemand das Vakuum füllen würde, das die Schwäche der Sozialdemokratie hinterlassen hat. Die ÖVP – noch kraftloser als ihr alter Widerpart – konnte es nicht tun. Für Sebastian Kurz und die Seinen war sie nur das Vehikel, das sie zur Macht tragen sollte. Die „Neue Volkspartei“, die bei Wahlen als „Liste Kurz“ antritt, baut sich gerade einen türkisen Staat.
In den Resten der verstaatlichten Industrie haben die Türkisen ebenso die Kontrolle übernommen wie in den Sozialversicherungen. Banken, Versicherungen, Immobiliengiganten, Konzerne und ihre Interessensvereinigungen bekommen Gesetze nach Maß und wissen, wem sie dafür zu danken haben. Der allergrößte Teil der Medienlandschaft, zum Überleben abhängig von Regierungsinseraten und Presseförderung, ist längst auf Linie. Einflussreiche Kreise in der Justiz halten den Türkisen lästige Prozesse vom Hals. Das geht, weil in der österreichischen Rechtsordnung nicht unabhängige Richter, sondern weisungsgebundene Beamte darüber entscheiden, wer angeklagt wird und wer nicht.
Es wird Zeit, sich einer nüchternen Erkenntnis zu stellen: Türkis kann nicht abgewählt werden.
Kein Gegner in Sicht
Selbst, wenn die Liste Kurz einmal nicht den Kanzler stellen sollte, bleibt das türkise Netzwerk an Ort und Stelle. Die Entschlossenheit und die Geschwindigkeit, der strategische Weitblick und das taktische Geschick, mit dem Kurz und seine wichtigsten Berater Bernhard Bonelli, Stefan Steiner, Philipp Maderthaner und Gerald Fleischmann die Errichtung des türkisen Staates geschafft haben, ist beeindruckend und weitgehend ohne Gegenwehr erfolgt. Bei der parlamentarischen Kontrolle tun sich derzeit vor allem die bürgerlich-liberalen NEOS hervor. Die zweite Partei der bürgerlichen Mitte, die Grünen, werden gerade von ihrem Koalitionspartner zerquetscht. Solange die ÖVP sie mit guten Umfrageergebnissen ruhigstellen kann, werden sie willfährig bleiben. Abgerechnet wird am Schluss. Das Ziel bleibt die türkise Absolute.
Ein gesellschaftlicher Gegenentwurf ist nicht in Sicht. Die FPÖ verfällt in alte fremdenfeindliche Reflexe, die Sozialdemokratie nimmt ihre zunehmende Bedeutungslosigkeit schicksalsergeben hin. Über eine Vision für die Zukunft, über Projekte, die von erfolgreichen sozialdemokratischen Parteien wie in Spanien oder Portugal angegangen werden – Bedingungsloses Grundeinkommen, Verstaatlichungen, Arbeitszeitverkürzung – wollte die SPÖ-Bundespartei bisher gar nicht nachdenken. Die neue Initiative für die 30-Stunden-Woche weckt zumindest Hoffnung. Angesichts sinkender Lohnquoten der letzten drei Jahrzehnte ist sie keine radikale Forderung, sondern wäre lediglich die Rückzahlung eines zinsfreien Kredits, den die die Arbeitnehmer „der Wirtschaft“ seit den 1990ern gewährt haben.
Es gibt in der Linken – der Sozialdemokratie und den kleinen Linksparteien, den Gewerkschaften, NGOs und auch Teilen der Kirchen – das Potenzial, unser Land in die richtige Richtung voran zu bringen. Zeit, einander über ideologische Gräben hinweg Solidarität zu zeigen. Zeit, einander die Hand auszustrecken und tätig zu werden. „Es kann die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein.“ Erinnert sich noch jemand an diesen alten Brecht?
Die geschlagene, verschreckte Linke in Österreich braucht Hilfe. Von den Wählern verlassen, vom Boulevard erpresst, von Türkis ausgedribbelt, braucht sie zivilgesellschaftlichen Rückenwind, um wieder auf die Überholspur zu kommen.
Wir wollen unseren Teil betragen. Der 1. Mai ist auch für ZackZack ein besonderer Tag. Genau seit einem halben Jahr gibt es uns nun als parteiunabhängiges Medium. In dieser Zeit haben wir rund 1,5 Millionen Leserinnen und Leser auf ZackZack.at begrüßt, Woche für Woche lesen uns mehr als hunderttausend. Und wir wachsen weiter, denn vielen wird immer klarer: Für Österreich braucht es eine Alternative zu Türkis.